Survival-Guide: Barrierefreiheit

Liebe Julie,

es ist kaum zu glauben, was ein Gips einen so alles lehrt. Aufgrund der Witterung war ich mit dem Spaltgips zuhause einkaserniert und mein Aktionsradius ist von 100 auf 0 gefallen. Auf einem Bein hüpfend mit zwei Krücken bewaffnet macht man dann nicht wirklich viel außer die Zeit abzuliegen, abzulesen, abzuhumpeln, etc. um nach der Frist endlich ins Krankhaus aufzubrechen, um sich seinen „Sportgips“ abzuholen. Klingt vielversprechend, dieses Wort „Sportgips“…Dieses farbenfrohe Ding – man hat die Qual der Wahl zwischen ganz poppigen, lustigen Farben – ist nicht sehr anhänglich, schön leicht und man denkt, jetzt erobert man die Welt bis man gesagt bekommt, dass man nach wie vor nicht auftreten darf. Am Ende ist es eigentlich Aktion „Pustekuchen“. Alles ist fast so mühsam wie zuvor und die Schulterpartie brennt abends vom Krückengehen, ganz abgesehen von den verkrampften Handgelenken und schmerzenden Händen.

Aber du kennst mich ja, denn Aktionradius 0 ist nach einer Woche dann doch unerträglich für mich. Also auf auf zu neuen Taten! Barrierefreiheit lebe hoch, vor allem in Wien auf Stiege 2. Am Treppenabsatz bündelt man zum ersten Mal seine Energien und hüpft lustig die 28 Treppen hinuntern. Und ja, die Herrschaften im AKH hatten recht, dass man künftig sehr genau weiß wie viele Treppen man auf seinem Absatz hat. Hüpfen klingt nett, die Wahrheit ist mehr, dass man sich ans Stiegengeländer klammert mit der einen Hand und mit der anderen sich auf einer Krücke abstützt. Runter geht eh verhältnismäßig schnell. Humpel, humpel. Die Zwischentüre zum Innenhof stellt schon wieder eine Herausforderung dar. Sperrangelweit aufreißen heißt die Devise, beide Arme wieder in Windeseile mit Krücken bewaffnen und sich wagemutig in die Lücke werfen, die Türe mit der linken Schulter abfangen, durchquetschen, die Krücken nicht einzwicken und hoppladihop, durch ist man, um vorm nächsten Treppenabsatz zu landen. Noch zwei Türen und dann bin ich in Freiheit! Schweißgebadet, aber doch. Hoch lebe die Barrierefreiheit.

Der Aktionsradius steigt dann etwa auf 500 m, das schafft man locker in 30 Minuten. 30 Minuten? Ja, das Gefühl trügt nicht, dass einen selbst Schnecken überholen. Und auf einmal sind überall Bordsteinkanten, Kanalgitter oder andere Hindernisse ehe man mal an einem Ort landet. Der Weg zum Hausarzt wird zur Sportveranstaltung, zumal man eine der schwersten Türen Wiens dort antrifft, ein unnötiges Zwischengeschoß mit Stiegen, einen Innenhof zum Durchqueren, wieder Stiegen und die fieseste Flügellifttüre der Welt. Ein Rollstuhlfahrer hätte hier keine Chance gehabt! Eine frischgebackene Mami mit Kinderwagerl hatte kaum Platz und wurde eingeklemmt sodass sie sogar einen Alarm ausgelöst hat. Top! Und plötzlich fängt man zum Nachdenken an wie mühsam das für mobil eingeschränkte Menschen sein muss. Apropos Rollstuhlfahrer. Einen ebensolchen habe ich beim Ausflug zu meinem gegenüberliegenden Spar getroffen. Er fragt mich lieb, ob ich ihm den Eiaufstrich aus dem Kühlregal geben kann ehe er mein Gipsbein sieht und ich vorm Regal stehe und einfach nicht bis zum gewünschten Eiaufstrich reichen kann. Da lacht er ganz laut und herzlich und ich gleich mit. So kommt man ins Plaudern und wir motzen beide über die vermeintliche Barrierefreiheit.

Da wären wir dann auch schon beim Thema, das unvermeidlich mit Barrierefreiheit zu tun hat nämlich Hilfsbereitschaft. Wie du siehst, mit ersterem ist es ja noch nicht so weit her, weshalb man auf zweitere angewiesen ist wie auf ein Stück Brot. Zum Glück gibt es noch ein paar ausgesprochen nette Menschen, die einem Hilfe anbieten, aber der Großteil ist rüppelhaft, rücksichtslos und ignorant. Man kann es leider nicht anders ausdrücken. Einer hätte mich fast umgerannt, obwohl genügend Platz zum Ausweichen gewesen wäre, ein andere gafft mir bei meinem Türvergnügen zu ohne Anstalten zu machen zu helfen. Da blieb ich eingezwickt in der Tür stecken, habe meine Höflichkeit über Board bzw. meine inneren Barrieren geworfen und in angeblafft, ob er weiterhin doof zuschauen will, eventuell doch vom Gefühl befallen wird, mir helfen zu wollen oder ob er nicht einfach gehen mag. Er geht.

Andere Begebenheit, ich warte auf die Bim. Diese fährt ein und ich hüpf schon aufgeregt herum, um einigermaßen bei der Eingangstüre zu landen, muss dann aber doch ein paar Krückenstoppler weiter humpeln, drücke das Knöpchen, die Türen schwingen auf. Natürlich eine alte Garnitur – ich denke wieder an den Rollstuhlfahrer – also beide Krücken in eine Hand umbasteln, den verzwickten Mantel rauswinden, etc. und die Hand nach der Stange ausstrecken. Wutsch, die Türe geht zu. Pah! Wieder aufs Knöpfchen gedrückt, tut sich nichts. Also leicht gestresst wieder in den Humpelmodus und zur nächsten Türe, schimpfend wie ein Rohrspatz mittlerweile. Diesmal bin ich schnell genug und hiefe mich auf die erste Treppe und hüpfe eingespreizt zwischen Handlauf und Bim-Flügeltür die Treppen rauf. Ein wahres Vergnügen! Warum ich nicht auf die nächste Niederflur-Bim warte? Weil die lt. Fahrplan bei zapfigen Minustemperaturen erst in 15 Minuten kommt. So ist das, mit der Barrierefreiheit.

Barrierefreiheit ist als so ein Thema. Wie man überlebt im Großstadtjungel? Schwierig. Ich muss jedenfalls sagen, Chapeau vor allen wie auch immer körperlich eingeschränkten Menschen, für die das den Alltag darstellt. Ich für mich lege zwar das Gipsbein ab, aber nehme mir  eine extra Portion Hilfbereitschaft mit.

Winke, winke, meine Liebe!
Anna

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